Vor einigen Jahren hatte ich die Geschäftsleitung eines mittelständischen Unternehmens im Tourismus. Ich durfte 30 Mitarbeiter führen. Ein sehr engagierter Mitarbeiter namens Martin (Name geändert) hat sich im Laufe der Zeit sehr verändert. Er wurde immer ruhiger und seine Leistung war nicht mehr in Ordnung.
Als ich Martin eines Tages zur Rede stellen wollte, bat ich ihn in mein Büro. Wir sprachen über seinen Leistungsrückgang, plötzlich fing er an zu lachen. Ich fühlte mich nicht respektiert und habe ihn kurzerhand aus dem Büro verwiesen. Er hat sich später bei mir entschuldigt und mir erklärt, dass er seine Emotionen nicht kontrollieren konnte. Mir kam die ganze Situation mittlerweile sehr suspekt vor. Seine Kollegen haben mich ebenfalls angesprochen und meinten, dass Martin Drogen nimmt.
Als ich Martin ein paar Tage später aus der Küche humpeln sah, fragte ich ihn, was passiert war. Wie ich mit ihm sprach, bemerkte ich, dass seine Augen während des Gesprächs in komplett andere Richtung steuerten. Der Inhalt des Gesagten und seine Körpersprache passten nicht mehr zusammen. Das war nicht mehr der Martin, der immer hilfsbereit und kompetent seine Arbeit erledigte. Ich schickte ihn zum Arzt. Dieser verwies ihm zum Neurologen ins Krankenhaus und verbat ihm selbst mit dem Auto zu fahren. Also habe ich ihn gefahren. Im Spital wurde sofort ein MRT gemacht. Die schreckliche Nachricht: Gehirntumor. Martin wurde sofort in eine Spezialklinik eingewiesen. Die Lage war sehr ernst. Er war damals erst 27 Jahre. Ich war im ersten Moment die erste und nächste Ansprechperson.
Martin bat mich, seine Eltern zu informieren, weil er dafür nicht in der Lage war. In diesem Moment war ich ziemlich überfordert, weil mir die Situation persönlich sehr nahe ging. Ich informierte seine ahnungslosen Eltern, die von Martins Veränderungen in der letzten Zeit nichts mitbekommen haben, weil sie weit weg wohnten.
Am nächsten Tag habe ich alle Mitarbeiter gemeinsam über den Zustand von Martin berichtet. Ich hatte Tränen in den Augen.
Das war mir damals ziemlich peinlich, weil ich glaubte, als Führungskraft nicht stark genug zu sein. Heute sehe ich das anders: die Kollegen haben meine ehrliche, empfindliche Art sehr geschätzt. Dieses Feedback haben sie mir in späteren Mitarbeitergesprächen mehrmals mitgeteilt.
Es ist der Mensch, in diesem Fall Martin, der zählt. Ich habe mich mit seinem Team bestehend aus drei Mitgliedern zusammengesetzt und besprochen, wie wir die Zeit von Martins Abwesenheit überbrücken und die Aufgaben verteilen. Alle waren bereit zusätzliche Aufgaben zu übernehmen und Überstunden zu machen, wobei zum damaligen Zeitpunkt noch keiner wusste, ob Martin überhaupt überlebt.
Martin hatte die schwierige Operation gut überstanden. Nach sieben Monaten Abwesenheit ist er in einem Teileingliederungsprozess wieder im Unternehmen gestartet. Es hat insgesamt ein Jahr gedauert, bis er seine Aufgaben wieder vollständig erledigen konnte. Er musste nicht gekündigt werden und konnte ohne Kompetenzverlust seinen Tätigkeiten vor der Krankheit wieder nachgehen.